funwaerts. Der Stadtplan an der Wand neben mir ist mit kleinen bunten Pins gespickt. Wir sind im Sueden, gleich neben der Metrostation Kabaty. Die Strecke, die wir gestern mit dem Fahrrad zurueckgelegt haben, entspricht hier 3 1/2 mal der Laenge zwischen meinem kleinen Finger und Daumen. Aber beginnen wir vorne.
Einen Tag vor dzień Bożego Ciała und zwei Tage vor dem ersten EM-Spiel kamen wir in Warszawa an. Gegen viertel nach 11, ca. fuenf Stunden Zugfahrt hinter uns. Marcin, bei dem wir die naechsten zwei Naechte verbringen wollten, hatte uns mit auf eine Party von Freunden eingeladen. In irgendeinem Vorort, 45min mit dem Bus entfernt.
Wir steigen ein, wollen uns korrekt verhalten und erst einmal ein Bilety kaufen. Der Fahrer versteht uns leider nicht auf Anhieb und guckt anschliessend ein wenig grimmig. Jemand hilft uns, schliesslich halten wir 2 Tickets in den Haenden. An dieser Stelle soll gesagt sein, dass es durchaus ratsam ist, sich die Tickets an den Automaten zu kaufen, falls man eins kaufen moechte. Kontrolleure und innen sind allerdings auch eher Mangelware im Warschauer Nahverkehr.
Inzwischen ist es fast Mitternacht und der Bus ist voll mit Heimtorkelnden, Partysuchenden, uns. Vor den Fenster ziehen im Laternenlicht Hochhaeuser, Fabrikgebaeude vorbei, ein kleiner Wald. Nach 30min wieder vereinzelte Wohnhaeuser. An der Haltestelle werden wir von Marcin und seinem Mitbewohner in Empfang genommen. Auf der Party anschliessend mit Vodka und fast-Prosecco. Die meisten sprechen deutsch, einige fliessend. Nach 3 Tagen nur franzoesisch eine seltsame Abwechslung. Die Freunde machen Sachen wie Manager, Copywriterin, Apothekerin. Es ist gut, sich zu entwickeln, sagt eine, als wir auf dem Balkon stehen und in die anderen Wohnungen der Residenz gucken. Aus den Boxen versuchen die Toten Hosen verzweifelt ihre Liebe zu beweisen.
Nach zwei Nachtbussen und 3km Fussmarsch kommen wir in Kabaty an. Erklimmen den 3. Stock. Fallen endlich auf die Luftmatratze im Wohnzimmer. Gegen 12h werden wir von einer Prozession geweckt, die drei Mal direkt unterm Fenster vorbeizieht. Vielleicht sind es auch drei verschiedene Prozessionen, so genau koennen wir es nicht ausmachen. Genug Kirchen gaebe es auf jeden Fall im Viertel. Dafuer stehen wir nun erst einmal auf, machen Crepe-Teig. Danach gehts los. Fahrradstadttour. Zunaechst zur Wisła, am Ufer entlang. Nach den Hochhausvierteln, den grossen Strassen und Autoachterbahnen in der Stadt eine willkommene Abwechslung und eindeutig fahrradfreundlicher. Hier am Fluss, der Warszawa in zwei Haelften teilt, sei der einzige Ort der Stadt, wenn nicht sogar ganz Polens, an dem man ungestraft in der Oeffentlichkeit Alkohol trinken koenne, sagt Marcin. Dann erzaehlt er weiter ueber die Besetzung Warszawas, den Aufstand 1944, das in den Ruecken fallen der Roten Armee. Im II. Weltkrieg waren alle Bruecken zerstoert. Fluesse sind schliesslich strategisch wertvolle Punkte. Rechts war es rot, links braun. Seltsam Seitenverkehrt. Nach dem Aufstand beschlossen die Nazis, die Stadt dem Erdboden gleich zu machen, teilten sie in kleine Quadrate und zerbombten eins nach dem anderen. The German Gruendlichkeit. Ab 46 wurde die Stadt wieder aufgebaut, Stueck fuer Stueck nach alten Vorlagen. Einige Gebaeude haben kleine Tafeln vor sich, auf denen Gemaelde oder Photos von vor 1944 abgebildet sind. Die Aehnlichkeit ist verblueffend. Zu Warschauer Aufstand von 1944 gibt es ein sehr gutes Museum, vielleicht zehn Geh-Minuten vom Bahnhof entfernt. Momentan wird dort auch ein Film gezeigt, in dem man ueber das zerstoerte Warszawa fliegt. Nur noch Truemmer. Auferstanden aus Ruinen erhaelt hier nochmal eine ganz andere Bedeutung.
Spaeter klettern wir auf das begruente Dach der neuen Unibibliothek, ein toller Ausblick ueber die Stadt. Manchmal stehen Marcin und sein Mitbewohner im Sommer an der grossen Fensterfassade, zeigen mit dem Finger auf die lernenden Student*innen und rufen laut „Ha Ha!“ Die Simpsons sind halt doch ueberall.
Es geht weiter nach Praga, zukuenftiger Hipsterstadtteil von Warszawa mit allerhand Kultur und Clubs und Kriminalitaet. Als wir im Sen Pszczozy stehen, fuehlt es sich fast so an wie in Berlin. Der Innenhof riecht nach gegrilltem Gemuese und man kann Club Mate kaufen. Die Toiletten sind in alten Fahrstuehlen, daneben gestanzelte Dali-Gemaelde.
Zwischen den Clubs immer wieder Ruinen, leer stehende Haeuser. Einige haben neue Fenster, daran erkennt man, dass sie bewohnt sind. Ich denke an Leipzig, die Kunst- und Kulturprojekte, die ueberall spriessen. Hier gibt es keine Mittel dafuer. Die Stadt moechte lieber alles Alte abreissen, neubauen, teuer vermieten. Klar, es gibt schon einige Projekte, aber es entwickelt sich alles noch. Momentan kommen die Leute lieber nur zum feiern hier hin.
Und zum feiern sind diese Woche allgemein viele nach Warszawa gekommen. Ueberall Polska-Rufe. Weiss-rot-geschminkte Gesichter. T-Shirts werden von fliegenden Haendlern auf Waeschestaendern verkauft. Die EM ist da. Und mit ihr Gaeste von ueberall. „Fun welcomes Fans“ steht am Hauptbahnhof. Chopin traegt verschiedene Fussballtrikots und begruesst alle auf bunten Plakaten. Troeten, Haende, die klatschen, Leuchtfeuer. Dazwischen Helfer*innen in orangefarbenden Warnwesten.
Gleich gegenueber vom Hauptbahnhof steht der Kulturpalast. Einst errichtet als Monument des Sozialismus, beherbergt er heute ein Museum der modernen Kunst. Fuer die einen Sinnbild der Unterdrueckung durch die Sowjetunion, fuer die anderen irgendwie Kult. Einige lassen ihn sich sogar auf den Ruecken tattoowieren. Allgemein ist Warszawa eine der widerspruechlichsten Staedte, die ich bisher kennen gelernt habe. So befindet sich heute beispielsweise im ehemaligen Gestapo-Hauptsitz das Bildungsministerium. In einer russischen Zitadelle das Ausbildungslager fuer die polnische Armee. Am deutlichsten wird der Widerspruch aber am Koenigsweg.
Turistenstrasse mit allerhand Sehenswuerdigkeiten. An einer Ecke gibt es ein Vodka-Restaurant. Hier isst man zum Vodka und trinkt nicht zum essen. Immer voll, immer ueberfuellt. Gleich gegenueber ist ein Platz, auf dem streng glaeubige Christen vor einigen Jahren ein Kreuz aufgestellt haben. Sie bewachen es, glauben, beten. Eines Abends kommt ein Besoffener aus der Vodka-Bar auf einen wachenden Mann zugetorkelt: „Was machst du da eigentlich? Das ist das wahre Polen!“ und zeigt auf die Kneipe hinter sich. „Ja, so siehts aus in Polen“, sagt Marcin. „Eine Nation irgendwo zwischen Vatikan und Vodka.“
